6. SONNTAG der Osterzeit

1. Lesung aus dem 1. Johannesbrief (4,7-10

Evangelium nach Johannes (15,9-17)

 

Das Evangelium, das wir gerade gehört haben, ist ein Ausschnitt aus der langen Abschiedsrede von Jesus vor seinem Tod. Man könnte sie als ein Testament von Jesus betrachten, in dem er seinen „letzten Willen“ formuliert. Er hat nur noch einen Herzenswunsch: „Liebt einander! Nur so beweist ihr, dass ihr zu mir gehört, meine Freunde, Christen seid. Und die ersten Christen haben das in ihrer Gemeinschaft anscheinend sehr ernst genommen, denn Außenstehende sagten über sie: „Seht, wie sie einander lieben.“ Könnten die Menschen der Großfeldsiedlung das auch über uns sagen?

„Liebe“ ist ein großes Wort. Und jede und jeder versteht etwas anderes darunter – je nachdem, welche Erfahrungen er in seinem Leben bisher mit „Liebe“ gemacht hat. Darüber hinaus ist „Liebe“ ein oft missbrauchtes, abgedroschenes Wort geworden. Und andererseits: In unserer Gesellschaft rundum weht anderer Wind. Da herrscht Konkurrenzkampf, Neid, Eigeninteresse, Feindschaft, Misstrauen... Wie stark sind wir nicht von dieser Mentalität „infiziert“? Ist das nicht der Gegenteil von „Lieben“?

Was meint Jesus, wenn er sich wünscht, dass wir, seine Freunde, einander lieben? In der heutigen ersten Lesung heißt es: „Die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat von Gott nichts verstanden.“ Liebe macht also das Wesen Gottes aus. Sie ist seine schöpferische Kraft, mit der er alles ins Leben gerufen hat. Und in der Schöpfungserzählung heißt es, dass Gott die Menschen „nach seinem Bild“ geschaffen hat. In sie hat er etwas von sich selbst hineingelegt. Wenn wir lieben, strahlen wir etwas von Gottes Wesen aus. Wir zeigen unsere Verbundenheit mit ihm. Dann ist es Gott, der in uns wirkt.

Das ist am deutlichsten bei Jesus erkennbar: „Wie mich der Vater liebt, so liebe ich euch“, sagt er. Denken wir an die Szene, wo Jesus im Jordan getauft wird. Da sagt Gottes Stimme über ihn: „Dies ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich Gefallen.“ Das war eine Schlüsselerfahrung von Jesus: die Erfahrung von Gott geliebt zu sein. Gott hat an ihm Gefallen gefunden. Gott sagt zu ihm: „Ich finde dich gut. Du bist für mich einzigartig.“ Heißt nicht das „Lieben“: Den anderen „gut heißen“, ihn als vollwertig betrachten und behandeln, ihn voll annehmen?

Ich erfahre Liebe, wenn jemand mir unverhofft eine Freude macht; wenn einer mir ohne Vorurteile begegnet; ich erfahre Liebe in Menschen, die mir in schweren Zeiten beistehen; wenn jemand mich ohne viele Worte versteht; wenn einer, der mich nicht versteht, sich ehrlich interessiert und mich so nimmt, wie ich bin, auch mit - ja trotz meiner Fehler! Dann fühle ich mich als „wertvoll“ bestätigt. Mein Selbstbewusstsein wird gestärkt. Ich kann dann auch mich selbst annehmen.

Ist Jesus nicht so auf seine Mitmenschen zugegangen? Nicht ihre Fehler waren ihm wichtig, nicht ihre Schuld. Er gab ihnen das Gefühl akzeptiert zu sein, für voll genommen zu werden, wertvoll zu sein. Ist es nicht diese Liebe, die Jesus von Gott erfahren hat und die er anderen weitergibt? Das ist wohltuend, das wirkt befreiend, das hat zum Beispiel aus diesem Zolleinnehmer Zachäus einen anderen Menschen gemacht.

Ist das nicht das „Einander-Lieben“, das Jesus meint und das er sich von uns erwartet? Er hat es auch einmal anders formuliert: „Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.“ Als Reben an dem Weinstock - wie es im Evangelium vom letzten Sonntag hieß - mit Jesus verbunden, sollen wir Frucht bringen. Ist dieses „Einander-Lieben“ nicht diese Frucht, die Jesus gemeint hat?

„Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch aufgetragen habe: liebt einander. Das ist das Gebot, das ich euch gebe.“ Eigentlich ist das das einzige „Gebot“, das Jesus gegeben hat. Es macht unser Christsein aus, ob wir danach leben!

 

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